Literaturnobelpreis 1976: Saul Bellow

Literaturnobelpreis 1976: Saul Bellow
Literaturnobelpreis 1976: Saul Bellow
 
Der amerikanische Schriftsteller erhielt den Nobelpreis für »das menschliche Verständnis und die subtile Kulturanalyse, die in seinem Werk vereint sind«.
 
 
Saul Bellow, * Lachine (Quebec) 10. 7. 1915, Schulbesuch und Studium der Geschichte, Anthropologie und Soziologie, ab 1938 Dozent an verschiedenen Universitäten, 1948 Guggenheim-Stipendium, ab 1963 Professor für Sozialwissenschaften und Literatur an der Universität Chicago, dreimal National Book Award, 1976 Pulitzerpreis.
 
 Würdigung der preisgekrönten Leistung
 
Saul Bellow fügt sich in die Reihe der humanistischen Nobelpreisträger ein, die in meisterhaftem Stil die Situation des gebildeten Individuums in der modernen Welt skeptisch beleuchten. Obgleich er für viele Kritiker in seiner Ästhetik nicht mehr zeitgemäß war und ist, wurde die künstlerische Qualität seiner Werke kaum infrage gestellt. Schon vor der Auszeichnung mit dem Nobelpreis für Literatur erhielt er die meisten hohen Ehrungen, die einem Schriftsteller zuteil werden können.
 
 Jüdischer Intellektueller
 
Bellows Eltern waren kurz vor seiner Geburt aus Russland in die kanadische Provinz Québec eingewandert. Als Solomon Bellow wurde er in einer der ärmsten Gegenden von Montreal geboren. Dort wuchs er in der jüdischen Tradition seiner Familie und mit drei Sprachen auf: Französisch, Jiddisch und Englisch. Im Alter von acht Jahren siedelte er mit seiner Familie nach Chicago über, wo er eine amerikanische Schulbildung erhielt. In seinen Romanen ist Chicago neben dem Judentum die wichtigste Komponente des sozialen Hintergrunds seiner Stoffe. Bellow studierte an der Northwestern und der Chicago University, lehrte Literatur in Princeton und an zahlreichen anderen Universitäten, um 1962 als Professor für Literatur und Sozialwissenschaften nach Chicago zurückzukehren, wo er noch heute lebt.
 
Bellows erste literarische Veröffentlichungen erschienen ab 1941 in Zeitschriften, bevor sein erster Roman, »Der Mann in der Schwebe«, 1944 dem Publikum vorgestellt wurde. Das Buch weist die wichtigsten Charakteristika seines späteren Werks auf. Gegen die sprachlich sparsame Hauptströmung der zeitgenössischen amerikanischen Literatur versuchte Bellow, an die Klassiker des 19. Jahrhunderts anzuknüpfen. Sein Erzählstil erinnert neben Flaubert vor allem an Dostojewski.
 
Joseph, der Protagonist, ist kein Held, sondern ein intelligenter Mensch, der das Gute und den Sinn sucht, jedoch an der menschlichen Unzulänglichkeit scheitert. In seinen absurden Zügen und seinen Reflexionen, seiner Ablehnung tröstender Sinnspendung und seiner Auflehnung gegen die Sinnlosigkeit ähnelt Joseph den Figuren Camus'. In Form eines vom 15. Dezember 1942 bis zum 9. April 1943 reichenden Tagebuchs erzählt Joseph, ein kanadischer Einwanderer in Chicago, wie er nach und nach das Gefühl der Zugehörigkeit zu seiner neuen Heimat verliert. Mit der daraus entstehenden Freiheit im Sinne von Bindungs- und Traditionslosigkeit kann er nichts anfangen.
 
In seinem Vortrag zur Annahme des Nobelpreises interpretierte Bellow die bindungslose Situation Josephs als eine, in der moralisches Handeln unmöglich sei. Der Mensch könne das Gute nur in Gemeinschaft mit anderen Menschen finden, an seinem Ort in der Gesellschaft.
 
 
Bellows große Romane entwickeln dieselbe Problematik in leicht veränderten Zusammenhängen, mit anderen Gewichtungen und erzählerischen Mitteln. Der Durchbruch zu Ruhm und Anerkennung gelang ihm 1964 mit dem Werk »Herzog«. Die gleichnamige Hauptfigur des Romans trägt noch stärkere autobiografische Züge als Joseph. Herzog ist nicht nur als Sohn russischer, nach Kanada eingewanderter Juden in Chicago aufgewachsen, sondern darüber hinaus Professor geworden. In der modernen Großstadt sucht er in endlosen Monologen und Aufzeichnungen nach seinem eigentlichen Selbst. Schließlich geht er dazu über, seine Gedanken in Briefen niederzuschreiben, die er nie abschickt. Die Briefe sind kleine philosophische Abhandlungen. Sie zeugen von Bellows Belesenheit, die sich über einen großen Teil des europäischen Kulturguts erstreckt.
 
Professor Herzog setzt sich auf höherem Niveau und reflektierter als Joseph mit der gleichen Situation auseinander: In der modernen Welt bietet die Tradition keine verbindlichen Handlungs- und Denkmuster mehr, auf die man jederzeit zurückgreifen kann. Herzog stellt sich dieser Situation, ohne zu verzweifeln und ohne sich in allzu einfache Antworten zu flüchten. Auch Bellow liefert dem Leser keine klare Lösung.
 
Der äußere Rahmen von »Mr. Sammlers Planet« (1970) unterscheidet sich nur wenig von dem des »Herzog«. Die Handlung, in der ein 70-jähriger, nach Manhattan immigrierter Jude in ähnlicher Weise seine Gedanken über die moderne Welt vorträgt wie Herzog, umfasst nur drei Tage. Allerdings sind Sammlers Auffassungen weit pessimistischer und rückwärtsgewandter als die der früheren Romanfigur.
 
 Lehrer und Schüler
 
Der Protagonist von Bellows achtem Roman, »Humboldts Vermächtnis« (1975), ist der Schriftsteller Citrine. Mit dieser Figur nahm Bellow vorweg, was ihm selbst das Buch verschaffen sollte: weltweiten Ruhm und den Pulitzerpreis. Bellow selbst erlebte sogar eine noch höhere Auszeichnung, und es war in erster Linie dieses Werk, auf das sich die Begründung des Nobelkomitees bezog. Der autobiografische Charakter Citrines wurde in der Begründung ebenso deutlich hervorgehoben wie die bahnbrechende Wirkung Bellows für die auf ihn folgende Generation von amerikanischen Schriftstellern.
 
Citrine erzählt im Roman rückblickend, wie er in New York Schüler und später Freund des Dichters Humboldt Fleisher wurde, der viele Züge von Bellows Freund Delmore Schwarz trägt. Humboldt verhalf Citrine zu einem Lehramt in Princeton und zu Kontakten, die ihm den Weg zu schriftstellerischem Erfolg ebneten. Citrines Aufstieg war von Humboldts Scheitern begleitet, das schließlich im Wahnsinn und Tod endete. Citrine wurde weltberühmt, nur um anschließend wieder zu verarmen. In dieser Situation lernte er, sich von weltlichen Werten und alltäglichen Sorgen abzukehren. Das Mittel dazu war in erster Linie die Beschäftigung mit der Anthroposophie. Der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele und ein kosmisches Bewusstsein haben ihm dazu verholfen, sich über die herrschenden materiellen Werte, über Geld, Macht und Erfolg zu erheben. So gelang es ihm auch, dem verstorbenen Freund, an dessen Scheitern er nicht unschuldig war, postume Genugtuung widerfahren zu lassen.
 
Citrines Wendung zur Anthroposophie hat ebenfalls autobiografischen Charakter. Bellows Annäherung an die Lehren Rudolf Steiners fand in »Mehr noch sterben an gebrochenem Herzen« (1987) einen noch deutlicheren Ausdruck. Sie geschah jedoch nicht unvermittelt. Schon in »Der Regenkönig« (1959) musste sich der Protagonist auf einer fantastischen Reise durch Afrika über die Existenz einer geistigen, immateriellen Welt belehren lassen, die das Reich der Wahrheit ist. Lange vor den Zeiten der Esoterik hat Bellow mit »Der Regenkönig« die Wende von der Kritik zur Spiritualität vollzogen.
 
B. Rehbein

Universal-Lexikon. 2012.

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